Künstlerbücher: Wundersame Buchwelten | Michèle Wallenborn
Künstlerbücher sind in erster Linie Bücher erdacht und/ oder gemacht von
Künstlern, spezifisch konzipiert für die Buchform und häufig von ihnen selber
publiziert. Oft wird Lucy Lippard’s Zitat bemüht: ‘It’s an artist book, if an artist
made it, or if an artist says it is.’1
So vielfältig, wie die Kunstsparte der Künstlerbücher, ist auch die Terminologie. Die deutsche Sprache kennt für Künstlerbücher noch eine Reihe anderer Begrifflichkeiten, wie Objektbücher, Bücher von Künstlern, Buch als Kunstwerk, Buchkunst oder Kunstwerke in Buchform. Oft wird sich auch der englischen oder französischen Sprache und ihrer Nomenklatur bedient, um Künstlerbücher zu beschreiben: books as art, artist‘s books, book objects oder bookworks sind hier beispielhaft ebenso wie livres d’artistes, livres-objets oder livres de luxe.
Die amerikanische Künstlerin Susan Bee unterstreicht einen interessanten
Aspekt: „… was ich an der Buchform mag, ist die Tatsache, dass man das Werk nicht sofort gänzlich sieht wie ein Gemälde…”
Erst durch das Durchblättern, ein wundersamer Vorgang für Bee, erschließt sich das Gesamtkunstwerk.
Zeitgenössische Künstlerbücher sind auffallend vielfältig, so zum Beispiel in
Form von Schrift-/ Papierrollen, Ausfalter, Leporellos oder loser Objekte in einer Box. Sie spannen den Bogen von Skulpturähnlichen Buchobjekten über Pop-up Bücher hin zu Kunstwerken im traditionellen Buchformat, mal gemalt, bemalt, geklebt, ausgeschnitten… Manche könnten als wenig ergonomisch bezeichnet werden: kompliziert zu handhaben, weil teils sehr groß, hoch empfindlich und verletzbar, unleserlich und nicht leicht zugänglich.
Die Geschichte des Typus Künstlerbuch beginnt eigentlich Ende des 19. Jahrhunderts mit Verlegern von bibliophilen Werken, Livres de peintres oder
Malerbüchern, mit Original-Druckgraphiken versehene Bücher, als bildnerische Interpretation eines Textes. Aus der Verbindung von Text und Bild entstanden neue Kunstwerke. Sie waren die Wegbereiter des modernen Künstlerbuches, vom Künstler entworfen, typographisch und drucktechnisch anspruchsvoll auf handgeschöpftem Papier gedruckt in kleinen Auflagen. Großen Einfluss auf die Jahrhunderte alte Tradition der Buchkunst und deren Entwicklung hin zu bleibenden, herausragenden Kunstwerken verdanken wir Künstlern wie Bonnard, Vuillard, Renoir, Picasso, Odilon Redon und Galeristen/ Verlegern wie A. Vollard, H. Kahnweiler, A. Skira, E. Tériade und A. Maeght.
Der Unterschied zwischen „illustrierten Büchern“ und zeitgenössischen „Künstlerbüchern“ ist was letztere modern macht. Die Absicht des Illustrators ist es den Text zu erläutern während der Künstler Bilder und Impressionen erschaffen möchte die über den Text hinausgehen, ihn anreichern oder auch ohne Text auskommen.
Früh im 20. Jahrhundert schufen Avant-garde Künstler ihrerseits Bücher um
ihren künstlerischen Bestrebungen Ausdruck zu verleihen, unabhängig davon ob sie zum Arts and Crafts Movement gehörten oder zum DADA, zum Konstruktivismus, Futurismus, Deutschen Expressionismus, Surrealismus oder viel später zum Fluxus.
Nach dem zweiten Weltkrieg war es für viele Kunstschaffende in Europa ein
Anliegen Verbindungen jenseits von nationalen Grenzen wiederaufzubauen. Sie benutzten das Feld der Buchkunst zu formalen Experimenten, um Ideen zu verbreiten und um sich mit Gleichgesinnten in anderen Ländern auszutauschen.
Während der Begriff Künstlerbuch ein ganzes Spektrum an Publikationsformen umfasst, entstand die Bezeichnung „Livre d’artiste“ oder „Artist book“ in einem Klima von politischem Aktionismus der 60er und 70er Jahre, wobei das Buch die Möglichkeit bot gesellschaftliche und künstlerische Ideen und Botschaften einem breiteren Publikum in großer Auflage günstig zu vermitteln. Diese konzeptuellen Bücher sollten klar dem etablierten Kunstsystem entgegentreten und zielten auf eine Dematerialisierung der Kunstobjekte. Parallel dazu entwickelten sich digitale Techniken, womit traditionelle Drucker und Verleger weniger wurden. Die Begründer dieses Genres, Ed Ruscha, Dieter Roth, Daniel Spoerri, Sol Lewitt oder Lawrence Weiner betrachteten ihre Bücher als alternative Räume um ihre Kunst darzustellen, quasi die Erschaffung neuer Ausstellungsorte im Kleinformat. Der kreative Entstehungsprozess war für sie von besonderer Bedeutung, neue Techniken wie Schablonieren, Fotokopieren und Offsetdrucken eröffneten neue Horizonte.
Nachdem sich die Form der konzeptuellen Bücher in den 90er Jahren sehr
aufgeweicht hatte, kehrten viele Buchkünstler zu handgefertigten Artefakten
zurück. Sie beherrschen heute unterschiedliche Techniken aus verwandten
Domänen wie Buchbinderei, Illustration, Typographie, Drucktechniken, Papiergestaltung und möchten ihre Werke selbst multidisziplinär herstellen.
Die heutige Sammlung der Bibliothèque nationale du Luxembourg entstand
ursprünglich aus einer Kollektion von Kunsteinbänden bibliophiler Ausgaben
von literarischen Vorlagen. Der Ausbau dieser Kollektion zu einer bedeutenden Buchkunstsammlung begann ab den 90er Jahren. Mehr als 270 luxemburgische Künstlerbücher sowie knapp 1400 internationale Künstlerbücher und 2300 Zeichnungen und Druckgrafiken des luxemburgischen Kupferstichkabinetts sind heute in der BNL sicher gelagert. Dank der kontinuierlichen Förderung der Direktor*innen kann dieser Aspekt der Auseinandersetzung mit dem Medium Buch heute einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Désirée Wicklers neues Künstlerbuch „Eldorado“ reiht sich nahtlos neben dem
ausgezeichneten Künstlerbuch „Entre chien et loup“ sowie „10 little refugees“,
„Atemnot der Gebärmutter“ und „Alltagstod“ in die Sammlung der BnL ein.
Gemeinsam sind ihnen die anspruchsvolle technische Faktur und die immer
existentiellen Themata sowie die teils düster, provokanten und vieldeutigen
formalen Ausdrucksmittel.
Bei „Eldorado“ faszinieren nicht nur das Ausschöpfen handwerklicher Möglichkeiten, sondern auch das durchdachte Konzept und die feine Ästhetik. Das Buch muss gegen Licht gehalten werden, damit die Skelette hinter den Menschen sichtbar werden. Aufgeklappt bilden die einzelnen sandsteinfarbenen Sargelemente einen kreisförmigen Reigen und eingelassen ist dieser in einem mit gelben Brokat und silbernen Blüten ausgekleideten Sarg. Die Schatulle hat auf Vorder- und Rückseite eine arkadenförmige Vertiefung, dort sind zwei Papiere mit Druckgrafik eingelassen. Titel und Name der Künstlerin sind als feine Prägung bei Lichteinfall zu erkennen. Hier zeigt sich ein beinahe textloses Buch, welches in seiner Gesamtkonzeption eine assoziationsreiche Erzählung wortlos vermittelt.
Die bibliophilen Schätze der BnL bieten eine andere Sicht auf das Medium Buch und seine Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten, die seit mehr als 100 Jahren immer neu interpretiert werden und sowohl Künstler*innen als auch Sammler*innen gleichermaßen faszinieren. Die BnL teilt diese Begeisterung für das Medium Künstlerbuch und die Buchkunst im Allgemeinen und bietet einen öffentlichen Ort des Austauschs, des Bewahrens und der Vermittlung.
1 Lucy Lippard, New Artist’s books, in: Joan Lyons (Hg.), Artist’s Books. A Critical Anthology and Source-book, Rochester/ New York 1985, S. 53
Mit freundlicher Genehmigung von Michèle Wallenborn.